Scham, Scham-Abwehr und der Nahostkonflikt
Scham ist ein tiefgründiges und vielschichtiges Gefühl, das in vielen Kulturen auf der ganzen Welt vorkommt. Es kann durch eine Vielzahl von Faktoren ausgelöst werden, darunter soziale Normen, persönliche Erwartungen und moralische Überzeugungen. Scham entsteht oft aus der Angst heraus, nicht den Erwartungen anderer Menschen oder der Gesellschaft als Ganzes gerecht zu werden, und kann zu einem Gefühl der Isolation und Selbstentfremdung führen.
In extremen Fällen kann Scham sogar eine Rolle bei der Entstehung von Gewalt gegen Menschengruppen spielen. Wenn Menschen das Gefühl haben, dass ihre eigene Gruppenidentität, ihr sozialer Status oder ihre persönliche Ehre durch eine andere Gruppe bedroht ist, kann die daraus resultierende Scham zu einer Art kollektiven Psychologie der Rache und Vergeltung führen. Diese Dynamik kann verstärkt werden durch politische oder religiöse Führer, die diese Gefühle manipulieren, um ihre eigene Agenda voranzutreiben. Dabei kann Scham dazu benutzt werden, um eine Ideologie der Überlegenheit zu fördern und die Gewalt gegen die stigmatisierte Gruppe als notwendig und gerechtfertigt darzustellen.
Der Nahostkonflikt und die Scham
Der Nahostkonflikt, ein komplexes und facettenreiches Spannungsfeld, hat viele treibende Kräfte, von geopolitischen Interessen bis hin zu religiösen Überzeugungen. Aber einer der weniger untersuchten, aber dennoch kritischen Faktoren ist das Konzept der Scham. In einer Region, in der Ehre und gesellschaftlicher Status tief verwurzelte kulturelle Werte darstellen, kann das Gefühl der Scham als ein mächtiger Beweggrund für Handlungen auf beiden Seiten des Konflikts dienen. Scham kann dazu führen, dass Individuen und Gruppen extreme Maßnahmen ergreifen, um ihr Gesicht zu wahren, ihre Ehre wiederherzustellen oder einen empfundenen Statusverlust zu kompensieren. Dabei kann Scham von politischen Akteuren bewusst oder unbewusst instrumentalisiert werden, um Konflikte zu eskalieren, Gemeinschaften zu polarisieren und die eigene Agenda voranzutreiben.
Umgang mit Scham in der israelischen Gesellschaft und im Judentum
In der israelischen Gesellschaft wird Scham oft im Kontext sozialer und familiärer Erwartungen diskutiert. Israel ist eine pluralistische Gesellschaft, die westliche Werte mit jüdischer Tradition verbindet. In der jüdischen Kultur, die durch Texte wie die Tora, den Talmud und andere religiöse Schriften geformt ist, gibt es komplexe Ansichten zur Scham. Zum Beispiel legen die jüdischen Gesetze der „Halacha“ großen Wert auf die Wahrung der Menschenwürde und den Respekt vor anderen. Scham wird oft als erniedrigend angesehen, und es gibt spezielle Gebote, die darauf abzielen, andere nicht zu beschämen („Malbin Pnei Chaveiro“).
Der israelische Psychologe Dan Bar-On schrieb einst, dass Schamgefühle in der israelischen Gesellschaft als Schwäche gelten würden und sind sich bisher nur wenige Israelis ihrer Scham gegenüber den Palästinensern bewusst seien.
Umgang mit Scham in den besetzten Gebieten
In den besetzten Gebieten, in denen vorwiegend Palästinenser leben, ist Scham ebenfalls ein vielschichtiges Thema. Die palästinensische Kultur, geprägt von arabischen und islamischen Traditionen, legt großen Wert auf Ehre („Sharaf“) und Gemeinschaft. In diesem Kontext kann Scham oft als ein Mechanismus der sozialen Kontrolle dienen, insbesondere in Bezug auf Geschlechterrollen und familiäre Ehre.
Das Trauma der Kreuzzüge, die zwischen 1096 und 1291 stattfanden und bei denen Millionen von Menschen ums Leben kamen, hat im Nahen Osten eine tiefe Scham und ein kollektives Gedächtnis hinterlassen, das bis heute nachwirkt. Dieses Trauma wurde durch die Erfahrungen des Kolonialismus und die nachfolgenden Ereignisse – einschließlich der jüdischen Besiedlung Palästinas, militärischer Niederlagen gegen Israel und der fortgesetzten Armut und Ohnmacht unter den Palästinensern – reaktiviert. Im Kontext des arabisch-islamischen Wertesystems, in dem Würde und Ehre von zentraler Bedeutung sind, erlebt die Region diese Ereignisse als tief beschämend. Die gegenwärtige Politik des Westens und Israels wird von einigen Islamisten im Lichte dieser historischen Scham betrachtet und sogar als moderner „Kreuzzug“ interpretiert, insbesondere wenn der Westen den Kampf gegen den islamistischen Terror ebenfalls als „Kreuzzug“ bezeichnet.
Beispiele für wechselseitige Beschämung
In den Medien und politischen Diskursen gibt es viele Beispiele für wechselseitige Beschämung. Israeli beschuldigen oft Palästinenser der Terrorismusunterstützung, während Palästinenser Israelis der Unterdrückung und Besatzung beschuldigen. Diese gegenseitigen Beschuldigungen dienen oft dazu, die „andere Seite“ zu entmenschlichen und dienen als Rechtfertigung für weitere Gewalt oder politische Härte.
Als konkrete Quelle kann man den israelischen Sozialpsychologen Daniel Bar-Tal anführen, der viel über die Rolle von Emotionen und Wahrnehmung im israelisch-palästinensischen Konflikt geschrieben hat. Auch die Arbeiten von Edward Said, einem palästinensisch-amerikanischen Literaturtheoretiker, können für das Verständnis der Palästinenserseite aufschlussreich sein.
Wut-Scham-Spiralen sind ein Konzept, das oft in der Psychologie und Sozialwissenschaft untersucht wird. Sie beschreiben einen zyklischen Prozess, in dem Wut und Scham sich gegenseitig verstärken und zu einem anhaltenden negativen emotionalen Zustand führen können.
Die Idee der Wut-Scham-Spirale stammt aus verschiedenen Theorien der Emotionspsychologie und der klinischen Psychologie. Sie wird oft im Kontext von Beziehungen, sowohl romantischen als auch nicht-romantischen, diskutiert. In einer Wut-Scham-Spirale führt Wut oft zu Aktionen oder Äußerungen, die später als beschämend empfunden werden. Umgekehrt kann das Gefühl der Scham zu Wut auf sich selbst oder andere führen. Diese Emotionen können sich gegenseitig hochschaukeln und sind oft schwer zu durchbrechen. In sozialen Beziehungen kann diese Spirale besonders destruktiv sein. Sie kann zu einer Entfremdung zwischen den Beteiligten führen und in extremen Fällen sogar zu Gewalt oder Trennung führen. Auf einer breiteren Ebene können Wut-Scham-Spiralen auch in gesellschaftlichen Kontexten relevant sein. Zum Beispiel können sie zu Eskalationen in politischen oder interkulturellen Konflikten beitragen.
Weil Emotionen wie Hoffnung, Liebe, Mitgefühl und Reue als verletzbar gelten, werden sie oft hinter einer gefühllosen Fassade versteckt oder ‚eingefroren‘. Diese emotionale Stagnation kann sich in einer allumfassenden, chronischen Langeweile manifestieren und in extremen Fällen sogar suizidale Gedanken hervorrufen, fand der Psychologe Leon Wurmser heraus. Beschämung transformiert Passivität in Aktivität – und das führt dazu, dass andere verspottet, geringschätzt, drangsaliert, erniedrigt, objektiviert, ausgestoßen oder sogar zerstört werden.
Die bewusste Auseinandersetzung mit Scham kann Gemeinschaft und Solidarität fördern, da Scham eine Emotion ist, die jedem Menschen vertraut ist.