Das eigentliche Problem der SPD


2. September 2019


Politik und Kommunikation im Deutschen Bundestag

Sie hat sich wundgelegen. Das Gewebe zerstört, die Knochen liegen frei. Einzige Therapie: Druckentlastung. Doch wenn der Kopf nicht mitmacht, bleibt jede entlastende Bewegung aus. Seit 2003 liegt sie nun so da. Es müsste ein Ruck durch die SPD gehen, ein Ruck nach links.

Die Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen sind Geschichte. Als Votum für die Große Koalition bezeichnete der alte und vermutlich neue Ministerpräsident Brandenburgs, Dietmar Woidke, das verheerende Wahlergebnis in seinem Bundesland. In Sachsen rief Martin Dulig, Ostbeauftragter der SPD, seinen Anhängern entgegen, er verliere seinen Optimismus nicht. Das muss er auch nicht, liegen doch weitere fünf Jahre als Minister vor ihm.

Was beide nicht sagen: zwar dürfte in beiden Bundesländern eine Regierungsbeteiligung der rechtsradikalen AfD gerade noch einmal verhindert worden sein, dafür liegen nun Jahre des Stillstands vor den Ostdeutschen. Fortschrittliche Bündnisse, das zeigt auch die GroKo in Berlin, sind mit den Bremsern der Union nicht zu erwarten.

Alle Zeichen stehen auf Weiter so

Ob unfreiwillig oder nicht, die Wähler der rechtsradikalen AfD haben mit ihren Stimmen für den Erhalt des Status Quo gesorgt. Alles bleibt beim Alten. Eine Angleichung der Lebensverhältnisse gerät in weite Ferne. Die eigentlichen Probleme in den ostdeutschen Bundesländern werden weiterhin nicht adressiert. Im Gegenteil.

Vor der Bundesrepublik dürften etliche Jahre der gegenseitigen Blockade liegen. Stillstand, zementiert von Parteien, die – eigentlich politische Gegner – sich in gemeinsamen Regierungen belauern werden, einzig geeint durch den Willen, den Rechtsradikalen nicht die Regierungsämter zu überlassen. Das Weiter so werden sie mit den immer gleichen Begründungen rechtfertigen:

1. Mit den anderen Parteien in der Regierung lässt sich kein Fortschritt erzielen.

2. Unter Regierungsbeteiligung der Rechtsradikalen wäre alles noch schlimmer.

Der Fortgang des ewigen Stillstandes dürfte den Rechtsradikalen weiteren Zulauf bescheren. Sehenden Auges erstarren die ehemaligen Volksparteien und lassen sich und uns alle ins Verderben driften.

Bevölkerung schrumpft, AfD wächst

Die weitaus größten Stimmenzuwächse erhielt die AfD in den ländlichen Gegenden, welche am stärksten vom Rückgang der Bevölkerungszahlen betroffen sind, beschreibt der Journalist Stefan Schulz (Aufwachen! Podcast) in der aktuellen Ausgabe seines Podcasts Talkradio, welchen er zur Vorbereitung seines kommenden Buches „Die Rentnerrepublik“ eingeführt hat. In einer Studie der Dresdener Niederlassung des ifo-Institutes unter Leitung von Felix Rösel wurde den Ursachen für den Bevölkerungsschwund im Osten nachgegangen.

Rösel nennt als die drei wichtigsten die Massenflucht aus Ostdeutschland von 1949 bis 1961, dem Jahr des Mauerbaus, fehlende Zuwanderung junger Gastarbeiter in den 1960/70er Jahren sowie Abwanderung nach der Wende. Diese Einschnitte in die Bevölkerungsentwicklung würden dazu beitragen, dass es heute im Osten zu einer Überalterung kommt, mehr Menschen sterben, als geboren werden.

Nicht untersucht wurde in der Studie, welche Auswirkungen die derzeit insgesamt familienunfreundlichen Bedingungen auf die Bevölkerungsentwicklung haben. Der Studienleiter sieht allerdings einen Zusammenhang zwischen Bevölkerungsschwund und Wahlverhalten:

„Wenn jedes zweite Haus leer steht, irgendwann die Schule geschlossen werden muss, dann hat das natürlich auch Auswirkungen auf die Psyche vor Ort. Und natürlich hat das sicherlich auch einen Einfluss auf das Wahlverhalten. Wenn gleichzeitig immer erzählt wird, dass es allen besser geht, wir den Aufschwung haben und der Osten vielleicht irgendwann den Westen erreichen wird, dann passt die Wahrnehmung vor Ort nicht zu den Botschaften, die wir in der Politik hören.“


EMPFEHLUNG DER REDAKTION


Neben dem Rückgang der Bevölkerungszahlen belastet der Zerfall der Infrastruktur die Menschen in Ostdeutschland und anderen abgehängten Gebieten.

Olaf Scholz ist ein Problem für die SPD

Statt als Kümmererpartei diese Probleme zu adressieren, überließ es die SPD ausgerechnet dem des Sozialismus vollkommen unverdächtigen Vorsitzenden des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), Dieter Kempf, im SPIEGEL ein Ende der schwarzen Null zu fordern:

„Zu lange wurde der Fehler gemacht, Infrastruktur mit Straßenbau gleichzusetzen. Aber Infrastruktur ist so viel mehr – das ist auch der Internetzugang, die Dorfkneipe, der Bäcker und der Arzt vor Ort.“

Diese Sätze hätten von Bundesminister Olaf Scholz kommen müssen. Der aber wirbt lieber weiter für den Fortgang des Stillstandes in der Großen Koalition und bewirbt sich ideenlos als Parteivorsitzender.

Das Festhalten an der schwarzen Null durch einen sozialdemokratischen Finanzminister widerspricht jedem wirtschaftlichen Gedanken, der ursprünglich zur Politik der SPD gezählt wurde. Die drohende Wahl des Hanseaten zum Vorsitzenden der SPD dürfte die Partei noch weiter spalten. Zu groß ist die Sehnsucht der Parteilinken innerhalb der SPD und der Abgehängten außerhalb von ihr nach einem Umbruch der sozialen Verhältnisse. Die Angst vor dem Niedergang und der Armut im Alter hat den Mittelstand längst erreicht. Nicht nur im Osten, aber dort besonders. Auch 30 Jahre nach dem Fall der Mauer sind die Lebensverhältnisse nicht angeglichen.

Taktisches Wegsehen ist eigentliches Problem

Die Pressekonferenz, in welcher die SPD- und Regierungsmitglieder Franziska Giffey und Hubertus Heil gemeinsam mit CSU-Mann Horst Seehofer ihren Plan zur Verbesserung der Lebensverhältnisse in abgehängten Gebieten vorgestellt haben, ist fast vergessen.

Die Strukturprobleme, die Vergreisung, das Ausbluten des Ostens – all das spielte kaum eine Rolle. Zu groß war die Angst der etablierten Parteien links der AfD, es sich durch Wahrheiten mit der Bevölkerung zu verscherzen. Zu diesen Wahrheiten gehört: wenn die Bevölkerung schrumpft, dann helfen nur familienfreundliche Lebensbedingungen und Zuwanderung. Beides kostet viel Geld, politischen Kampf und – so die Angst in den Parteizentralen – Wählerstimmen.

Am Tag nach der Wahl brachte die derzeitige Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig, den Osten noch einmal in die Schlagzeilen. Ihre einzige Forderung: die bedingungslose Grundrente, welche von der CDU derzeit blockiert wird. Auch sie spricht nicht von den Strukturproblemen, die sich in den kommenden Jahren noch verschärfen werden.

Felix Rösel glaubt, die momentan im Osten zu beobachtende Entwicklung der Bevölkerung dürfte eines Tages auch in den alten Bundesländern stattfinden. Doch von Lösungen sind die Parteien derzeit entfernt.

Das kurzfristige Schielen auf zu erwartende Wählerstimmen und entsprechende Entschädigung der klammen Parteien überdeckt die Notwendigkeit von Langfristigkeit in der Politik. Aus dem gleichen Grund wurden einst Einrichtungen der Daseinsfürsorge, Wasser- und Stromwerke, Krankenhäuser, Wohnungen, privatisiert – und müssen nun für den vielfachen Preis zurückgekauft werden, um in der Bevölkerung keinen Aufstand zu provozieren.

Mobilmachung von rechts

Zur Erzählung nach den Landtagswahlen gehört auch die Erleichterung über die gestiegene Wahlbeteiligung: in Sachsen gaben 65 Prozent der Wahlberechtigen ihre Stimme ab (2014: 49,1 Prozent), in Brandenburg waren es immerhin 59 Prozent (2014: 47 Prozent). Für Sachsen bedeutet dies die höchste Beteiligung bei Landtagswahlen seit 1990. In Brandenburg gab es seit 1990 nur 2009 eine noch höhere Wahlbeteiligung zu Landtagswahlen.

In beiden Bundesländern konnte die rechtsradikale AfD die meisten ehemaligen Nichtwähler mobilisieren, so die jeweiligen Landeswahlleiter. An jeweils zweiter Stelle lagen die Parteien der bisherigen Ministerpräsidenten Kretschmer (CDU, Sachsen) und Woidke (SPD, Brandenburg).

Der anhaltende Zerfall des eher linken Lagers wird durch den Niedergang der Partei Die LINKE und die schwarz-grünen Träume von Robert Habeck und Annalena Baerbock noch beschleunigt.

Die verschärfte Notwendigkeit der linken Parteien, das eigene Profil sichtbarer zu machen, dürfte die gegenseitigen Blockaden in künftigen Koalitionen links der AfD noch verstärken. Die SPD glänzt vor allem durch geschäftige Ideenlosigkeit und den fehlenden Willen, sich deutlich an die Spitze eines progressiven Bündnisses zu stellen. Zu sehr hält die Elite der Partei lieber an Gewohnheiten und Machtstrukturen fest.

Nicht einmal Kevin Kühnert traut sich den Kampf gegen die Strukturkonservativen zu. Hinter den Kulissen, so hört man es allenthalben im politischen Berlin, habe Kühnert lange mit dem Seeheimer und Generalsekretär Lars Klingbeil geliebäugelt. Beide schätzen sich. Die Notwendigkeit einer klaren Richtungsentscheidung innerhalb der SPD sieht er offenbar als gering an. Der Partei droht somit der Vorsitz durch Olaf Scholz, der vor allem die eigene Kanzlerkandidatur im Sinn haben dürfte.

Alle Zeichen stehen auf Weiter so, alle Zeichen stehen auf Sturm.


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