Gegenwartsdiagnose

Zur Aktualität der Massenpsychologie des Faschismus


12. September 2023


Politik und Kommunikation im Deutschen Bundestag

In einer Zeit, in der sich die Welt wieder verstärkt autoritären Strömungen zuwendet, scheinen die Arbeiten von Wilhelm Reich, dem österreichischen Psychoanalytiker und Sozialtheoretiker, an Relevanz zu gewinnen. Eines seiner einflussreichsten Werke, die „Die Massenpsychologie des Faschismus“, stellt einen tiefgreifenden Versuch dar, die psychosozialen Mechanismen zu entschlüsseln, die zur Entstehung und Verbreitung autoritärer und faschistischer Ideologien beitragen. Es bietet einen multidimensionalen Ansatz, der sowohl individuelle psychische Bedürfnisse als auch soziokulturelle Faktoren berücksichtigt. Durch dieses tiefere Verständnis können effektivere Strategien zur Bekämpfung der Anziehungskraft autoritärer Ideologien entwickelt werden.

Eine seiner zentralen Thesen ist, dass die sexuelle Unterdrückung in der Familie und Gesellschaft als Ganze zu autoritären Persönlichkeitsstrukturen führt. Reich argumentiert, dass diese Strukturen, die bereits in der Kindheit in der patriarchalischen Familie verankert sind, ein fruchtbarer Nährboden für die Verbreitung faschistischer Ideologien sind. Kinder lernen in diesem Kontext die Prinzipien von Unterwerfung und Autoritätsgläubigkeit, die sie später an autoritäre Systeme binden.

Reich sieht zudem einen starken Zusammenhang zwischen den kapitalistischen Strukturen und dem Aufkommen des Faschismus. Seiner Ansicht nach fördert der Kapitalismus soziale Ungleichheiten, die den Nährboden für autoritäre Ideologien bilden. In diesem Sinne kritisiert er auch die marxistische Bewegung für ihre Vernachlässigung der psychologischen und sexuellen Dimensionen der Unterdrückung. Für Reich ist eine rein ökonomische Analyse unzureichend, um die komplexe Dynamik der gesellschaftlichen Verhältnisse vollständig zu erfassen.

Religion und Ideologie spielen nach Reich eine zentrale Rolle als Mittel zur Massenkontrolle. Er untersucht, wie Ideologien wie Nationalismus und Rassismus dazu dienen, die bestehenden Machtstrukturen zu rechtfertigen und die Menschen in ihrem autoritären Charakter zu bestärken. Dies führt zu einer Art „unterbewusster Anziehung“ zum Faschismus, die nicht nur auf Manipulation oder Täuschung beruht, sondern tief in den Mechanismen der sexuellen und sozialen Unterdrückung verwurzelt ist.

In der therapeutischen Praxis führt Reich die Methode der „Charakteranalyse“ ein. Diese zielt darauf ab, die Wurzeln autoritärer Persönlichkeitsstrukturen zu identifizieren und zu behandeln. Durch eine solche Analyse können Individuen besser verstehen, warum sie anfällig für autoritäre Ideologien sind, und können an einer persönlichen und gesellschaftlichen Transformation arbeiten.

Die Theorie der „unterbewussten Anziehung“ zum Faschismus

Eines der Schlüsselkonzepte in Reichs Theorie ist die Idee der „unterbewussten Anziehung“ zum Faschismus. Dieses Konzept dient als Bindeglied zwischen individuellen psychischen Bedürfnissen, sozialer Sozialisation und politischer Ideologie. Im Folgenden wird eine eingehende Analyse dieses Konzepts in Bezug auf seine verschiedenen Dimensionen vorgenommen.

Emotionale Bedürfnisse

Reich betont die Rolle unbewusster emotionaler Bedürfnisse als primären Katalysator für die Anziehung zu autoritären Ideologien. Indem er die emotionale Komplexität des menschlichen Verhaltens hervorhebt, bereichert Reich das Verständnis der psychologischen Dynamik hinter politischen Bewegungen. Er argumentiert, dass diese unbewussten Bedürfnisse das Individuum empfänglich für die Verführung durch autoritäre Ideologien machen können.

Autoritäre Strukturierung

Reichs Werk beleuchtet die signifikante Rolle der familiären Erziehung und sozialen Umgebung bei der Ausbildung autoritärer Persönlichkeitsstrukturen. Diese Strukturen können eine tiefe Sehnsucht nach starker Führung und klaren Antworten auf komplexe gesellschaftliche Fragen hervorrufen. Insbesondere veranschaulicht Reich, wie Menschen, die in einem solchen Umfeld aufgewachsen sind, besonders anfällig für die Anziehungskraft autoritärer Ideologien und Führungsfiguren sein können.

Sexuelle Unterdrückung

Die sexuelle Unterdrückung ist ein weiteres zentrales Element in Reichs Analyse. Er behauptet, dass die Tabuisierung und Unterdrückung natürlicher menschlicher Bedürfnisse zu einer Anhäufung emotionaler Frustrationen führen können. Diese unterdrückten Gefühle und Bedürfnisse können sich in einer Anziehung zu Ideologien manifestieren, die scheinbar einfache Lösungen und klare Feindbilder bieten.

Gefühl der Macht und Kontrolle

Reich analysiert, wie faschistische Ideologien den Menschen ein Gefühl der Macht, Kontrolle und Zugehörigkeit vermitteln können. Insbesondere argumentiert er, dass Menschen, die sich ohnmächtig oder gesellschaftlich marginalisiert fühlen, anfällig für die Versprechungen autoritärer Ideologien sein können, die dieses Bedürfnis zu befriedigen versprechen.

Ideologische Projektion

Das Konzept der ideologischen Projektion ist ein weiteres wichtiges Element in Reichs Theorie. Er zeigt auf, wie Menschen ihre eigenen inneren Konflikte und Ängste auf eine äußere Gruppe projizieren können, meist eine marginalisierte Minderheit. Dies dient dem individuellen Bedürfnis nach einem Gefühl der Überlegenheit und Kontrolle und verstärkt dadurch die Anziehung zu autoritären Ideologien.

Verdrängung und Rationalisierung

Reich weist darauf hin, dass viele Menschen ihre Anziehung zu autoritären Ideologien rationalisieren und moralisch rechtfertigen, ohne sich der tieferen psychologischen Mechanismen bewusst zu sein, die zu dieser Anziehung führen. Diese Form der Verdrängung und Rationalisierung verstärkt die Wirkung der zuvor genannten Faktoren und trägt zur Beständigkeit und Verbreitung autoritärer Systeme bei.

Aktualität und Relevanz von Wilhelm Reichs Theorien in zeitgenössischen Diskursen

Obwohl einige der Theorien Wilhelm Reichs als veraltet oder kontrovers betrachtet werden, finden sie dennoch ihren Weg in gegenwärtige Diskussionen, insbesondere in den Schnittstellen von Psychologie, Politik und Gesellschaft. Warum ist das so?

Reichs Analyse der „Massenpsychologie des Faschismus“, veröffentlicht im Jahr 1933, bietet ein tiefes Verständnis für die Anziehungskraft autoritärer Ideologien. Zum Beispiel nutzte der Politikwissenschaftler Robert O. Paxton in „The Anatomy of Fascism“ (2004) Reichs Ideen, um den modernen Aufstieg des Rechtspopulismus zu analysieren.

Reich war einer der ersten, die die Verbindung zwischen Sexualität und politischen Strukturen explizit machten. Heute findet diese Idee Anklang in Studien zur Gendertheorie und LGBTQ-Rechten. Judith Butler, die bekannte Gender-Theoretikerin, hat Reichs Ideen als Grundlage für ihre Analysen der Geschlechtsidentität verwendet („Gender Trouble“, 1990).

Die Interdisziplinarität von Reichs Arbeit, die Psychologie, Sozialwissenschaften und Politik verbindet, ist heute relevanter denn je. Wissenschaftler wie Steven Pinker haben Reichs Ansätze gelobt, um die komplexen Zusammenhänge zwischen diesen Disziplinen zu verstehen („The Better Angels of Our Nature“, 2011).

In Zeiten zunehmender sozialer Ungleichheit gewinnen auch Reichs Ideen zur Rolle des Kapitalismus in der Förderung autoritärer Strukturen an Bedeutung. Thomas Piketty zitiert ihn in „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ (2013), um die Verbindung zwischen ökonomischer Ungleichheit und dem Aufstieg autoritärer Regime zu erörtern.

Reichs Arbeit in der Charakteranalyse beeinflusst auch die moderne Psychotherapie. So haben etwa Therapieansätze wie die „Bioenergetische Analyse“ seine Theorien aufgegriffen, um den Einfluss des Körpers auf die psychische Gesundheit zu verstehen.

Reichs Fokus auf persönliche Befreiung als Mittel zur politischen Veränderung findet Resonanz in modernen sozialen Bewegungen. Aktivistinnen wie Angela Davis haben Reichs Ideen zitiert, um die Verbindung von persönlicher und politischer Freiheit hervorzuheben.

Theorien im Spiegel des Postmodernen Kapitalismus: Mehr als nur Relikt der Vergangenheit?

Wilhelm Reich mag ein Kind seiner Zeit gewesen sein, aber die Einsichten, die er in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts formulierte, haben erstaunliche Relevanz für das Verständnis des westlichen Kapitalismus im Zeitalter der Postmoderne. Aber wie genau lässt sich Reichs Analyse auf die heutige Welt übertragen?

Die Sehnsucht nach autoritären Persönlichkeiten

In einer Ära, in der demokratische Normen selbst in westlichen Ländern erodieren, wirken Reichs Betrachtungen zur „Massenpsychologie des Faschismus“ beinahe prophetisch. Reichs Theorien über autoritäre Persönlichkeiten könnten helfen, die Anziehungskraft populistischer Führer zu erklären, die den Unmut der Öffentlichkeit zu nutzen wissen. Autoren wie Christopher Lasch in „The Culture of Narcissism“ (1979) haben bereits solche Verbindungen hergestellt, um den Hang zum Autoritarismus im westlichen Kapitalismus zu untersuchen.

Die Sehnsucht nach autoritären Persönlichkeiten, vor allem in Zeiten gesellschaftlicher oder politischer Unsicherheit, ist ein gut erforschtes Phänomen in der Sozialwissenschaft. Forschung in diesem Bereich kann auf die Theorien von Wilhelm Reich und Theodor Adorno zurückgeführt werden, die im 20. Jahrhundert tiefgehende Analysen zu autoritären Persönlichkeiten vorlegten. Adornos berühmte Studie „The Authoritarian Personality“ (1950) setzt sich intensiv mit den Mechanismen auseinander, die Menschen dazu führen, autoritäre Führer zu suchen und zu unterstützen.

In neueren Arbeiten wie „How Democracies Die“ von Steven Levitsky und Daniel Ziblatt (2018) oder „What Is Populism?“ von Jan-Werner Müller (2016) wird die Anziehungskraft autoritärer Führer im Kontext der modernen Demokratien untersucht. Diese Autoren argumentieren, dass demokratische Institutionen unter dem Druck von Populismus und autoritären Neigungen erodieren können, besonders wenn diese von charismatischen Führern angeführt werden.

Auch soziologische Studien, etwa von Arlie Russell Hochschild in „Strangers in Their Own Land“ (2016), untersuchen, wie wirtschaftliche Unsicherheit und sozialer Wandel die Menschen für die Botschaften autoritärer Führer empfänglich machen. Hochschild zeigt, wie in den USA die Abkopplung von der globalen Wirtschaft und der Niedergang der traditionellen Industrien zu einem Gefühl des „kulturellen Abstiegs“ geführt haben, das die Wahl von Führern begünstigt, die einfache Antworten und klare Feindbilder bieten.

Doch die Sehnsucht nach autoritären Persönlichkeiten ist nicht nur auf die Politik beschränkt. In der Wirtschaft beobachten wir einen ähnlichen Trend, wo charismatische CEO’s wie Elon Musk oder Steve Jobs fast kultische Anhängerschaften entwickeln. Die Wirtschaftswissenschaftlerin Mariana Mazzucato hat in ihrem Buch „The Entrepreneurial State“ (2013) dargelegt, wie solche Figuren als geniale Innovatoren gefeiert werden, obwohl ihre Erfolge oft auf staatlicher Unterstützung und kollektiven Anstrengungen basieren.

Sexualität

In einer Zeit, in der die Konsumkultur allgegenwärtig ist, wirft Reichs Denken einige interessante Fragen auf. Zum Beispiel könnte seine Kritik an der sexuellen Unterdrückung als eine frühe Kritik am Materialismus und am Konsum als Ersatz für tiefere, unerfüllte menschliche Bedürfnisse gesehen werden.

Die sexuelle Revolution mag zwar stattgefunden haben, aber Reichs Gedanken zu sexueller Unterdrückung und Tabuisierung sind nicht weniger relevant. Im Kontext der #MeToo-Bewegung und der Diskussionen um Geschlechtergerechtigkeit werden Reichs Theorien erneut aufgegriffen. Die Beziehung zwischen „Late-Stage Kapitalismus“ und Sexualität ist komplex und vielschichtig. In einer Gesellschaft, die stark durch Konsum und Individualismus geprägt ist, scheinen traditionelle Normen und Strukturen aufgeweicht zu werden, was einerseits zu einer freieren Auslebung von Sexualität führen kann. Andererseits bringt der Kapitalismus in seiner fortgeschrittenen Form auch negative Aspekte mit sich, die sich auf die sexuelle Auswahl und das sexuelle Verhalten auswirken können.

Der Kapitalismus hat zweifellos zu einer Kommerzialisierung von Sexualität geführt. Alles, von Dating-Apps bis zu sexuellen Dienstleistungen, ist inzwischen marktorientiert. Die Frage ist, ob diese Kommerzialisierung die sexuelle Auswahl tatsächlich erweitert oder ob sie nur die Illusion einer breiteren Auswahl erzeugt. Einige Forscher, wie z.B. Eva Illouz in ihrem Buch „Warum Liebe weh tut“, argumentieren, dass der Kapitalismus Beziehungen komplizierter gemacht hat und nicht unbedingt zu „besserer“ oder „freierer“ sexueller Auswahl geführt hat. Die Technologisierung der Sexualität durch Dating-Apps und Online-Plattformen kann sowohl als Erweiterung der Auswahl als auch als Faktor der Entfremdung betrachtet werden. Einerseits ermöglichen sie Zugang zu einer breiteren Auswahl an potenziellen Partnern; andererseits kann die Technologie auch eine Oberflächlichkeit fördern, die die Qualität der Beziehungen und damit die echte „Auswahl“ reduziert.

Die hohe Arbeitsbelastung und der psychische Stress, die der Kapitalismus mit sich bringt, könnten sich negativ auf das Sexualleben auswirken. Stress ist einer der Hauptfaktoren, die zu einer geringeren Libido führen können, was wiederum die sexuelle Auswahl einschränkt.

In einem System, in dem finanzielle Stabilität immer mehr zu einer Voraussetzung für den „Marktwert“ im Dating-Pool wird, könnte man argumentieren, dass die Auswahlmöglichkeiten für Menschen, die finanziell weniger gut gestellt sind, eingeschränkt sind. Die in vielen westlichen Ländern steigenden Raten von Adipositas und chronischen Krankheiten könnten auch als Nebeneffekt des Kapitalismus betrachtet werden. Diese Faktoren können wiederum die sexuelle Auswahl einschränken, sowohl durch Selbstwahrnehmung als auch durch die Wahrnehmung potenzieller Partner.

Kritik an der Konsumgesellschaft

Die entfremdende Wirkung des Kapitalismus, die Marx einst formulierte, findet in Reichs Arbeit eine psychologische Dimension. Die Postmoderne, geprägt durch einen unersättlichen Konsumhunger, scheint eine direkte Verbindung zu Reichs Beobachtungen zu bieten.

Reich argumentiert, dass die Unterdrückung der Sexualität oft mit einer Art von „emotionaler Verkrüppelung“ einhergeht, die Menschen anfällig für andere Formen der Befriedigung macht – und was könnte eine größere Ablenkung von emotionaler Unzufriedenheit sein als der ständige Konsum von Gütern und Dienstleistungen? Reichs Ansichten finden ein Echo in der modernen Kritik an der Konsumgesellschaft, wie sie etwa von Sozialtheoretikern wie Jean Baudrillard in „Der symbolische Tausch und der Tod“ oder von Kulturkritikern wie Christopher Lasch in „The Culture of Narcissism“ vorgebracht wird. Beide Autoren sehen im übermäßigen Konsum mehr als nur eine ökonomische Tätigkeit; für sie ist er auch eine Art von sozialem und psychologischem Ersatz für etwas, das in der modernen Gesellschaft verloren gegangen ist.

Die postmoderne Kultur ist fragmentiert und von Identitätspolitik geprägt. Reichs Konzepte der persönlichen Befreiung könnten als Wegweiser dienen, um durch den Dschungel der Identitätspolitik zu navigieren, in dem individuelle Erfahrungen oft als politische Handlungen verstanden werden. Selbst im Bereich der psychischen Gesundheit bieten Reichs Ansichten zur Bedeutung der Körperlichkeit und „Mindfulness“ Einblicke. In der Welt der Apps für Achtsamkeitsmeditation und Biohacking könnten wir argumentieren, dass Reichs Fokus auf der Verbindung zwischen Körper und Geist gerade jetzt besonders relevant ist.

Die Auswirkungen der Konsumkultur sind weitreichend: von der Zerstörung der Umwelt bis hin zur Förderung eines ungesunden Körperbildes durch die Medien. In diesem Kontext könnte Reichs Schrift als eine Warnung gesehen werden. Er warnte davor, dass eine Gesellschaft, die auf Unterdrückung und Unzufriedenheit aufbaut, letztendlich an ihren eigenen Exzessen zugrunde gehen könnte.

 


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